Theater wirkt. So können Inszenierungen intensive gesellschaftspolitische Debatten auslösen. Das zeigte sich beim Austausch des Dramaturgen Ludwig Haugk sowie der Theaterpädagogin Marie Petzold (Deutsches Schauspielhaus Hamburg) mit dem 12. Jahrgang des Gymnasiums Dörpsweg.
Die Schüler:innen aller vier S3-Deutschkurse hatten im Herbst gemeinsam eine „Woyzeck“-Vorstellung im Schauspielhaus besucht, also jenes Büchner-Dramas von 1837, das im Zentrum der Semesterarbeit stand. Gleichgültig ließ die aggressiv-knallige Inszenierung wohl nur wenige, vielfach gab es Fragen und Irritation, teilweise Empörung. So schrieb Leo Schiemann aus dem Deutschkurs von Frau Margedant kurzerhand eine Mail an das Theater – und bekam Antwort vom leitenden Theaterpädagogen des Hauses, Michael Müller. Der schlug ein Gespräch des Dramaturgen mit den Deutschkursen vor, das nun in der Dörpsweg-Aula stattfand.
Ludwig Haugk, der seinen Beruf des Dramaturgen als „Anwalt des Textes und Berater der Regisseurin“ vorstellte, wurde begleitet von der Theaterpädagogin Marie Petzold. Beide sammelten zunächst Eindrücke und Fragen der Schüler:innen und baten sie dann, selbst Vermutungen, Erklärungsansätze, Antworten zu wagen. Heraus kam zunächst eine vielschichtige Interpretation zu einer Reihe von Merkmalen der Inszenierung.
So wurde die schrille, verstörend pinke Ästhetik auf die Perspektive des schon bei Büchner an Halluzinationen leidenden Woyzeck bezogen, die gummizellenhafte Raumgestaltung auf seine Wahnvorstellungen, das dämonische Auftreten anderer Figuren auf seine alptraumhafte Innensicht. Zugleich, so Haugk, wolle die Inszenierung auch tradierte Erwartungen aufbrechen, das Publikum aufrütteln, die Aufmerksamkeit schärfen. Die bereits offene Struktur des Büchner-Dramas – es gibt keine eindeutige Reihenfolge der von Büchner fragmentarisch hinterlassenen Szenen – beantwortet die Schauspielhaus-Inszenierung mit einer Wiederholungsschleife von Szenen, deren Verlauf jedoch variiert: Die Ermordung Maries durch Woyzeck, wie Büchner sie ans Ende der Dramenhandlung stellt, bildet unverblümt gleich den Anfang der Inszenierung. Es folgen eine Splatter-Variante, eine Version, in welcher Woyzeck Selbstmord begeht, und schließlich eine Fortsetzung, in der es keinen Mord mehr gibt. Damit gewinnt die bereits von Büchner neu gefasste Darstellung eines historisch überlieferten Falls auf der Hamburger Bühne Alternativen, Ableitungen, die „etwas mit heute zu tun haben“, so Haugk.
Dynamisch wurde die Diskussion bei der Frage eines Schülers, ob Haugk denn finde, dass die im Programmheft ins Zentrum gerückte Femizid-Thematik von der Inszenierung eingelöst werde. Haugk berichtete, dass die Regisseurin Lucia Bihler es abgelehnt habe, die Figur Woyzecks als „Opfer der Umstände“ darzustellen, vielmehr gebe es nie eine Rechtfertigung dafür, eine Frau umzubringen. Auch sei es nicht Ziel ihrer Inszenierung, die mehr oder weniger klaren Intentionen des Autors umzusetzen, vielmehr solle eine eigene Botschaft, ein neuer Fokus vermittelt werden – und so bilde die Ermordung Maries eben nur eine von mehreren denkbaren Verläufen. Die Inszenierung wolle zudem keine Eindeutigkeit schaffen, keine klare Antwort geben, kein Vorbild liefern, vielmehr dem Publikum in einem Moment der Ruhe während des Theaterbesuchs die individuelle Auseinandersetzung mit neuen Blickwinkeln ermöglichen.
Die Femizid-Problematik griff auch Petzold auf mit dem Hinweis, dass die Ermordung von Frauen, dem „schwachen Geschlecht“ gegenüber „männlicher Dominanz“, ein nicht überwundenes gesellschaftliches Problem sei. Während einige Schüler:innen die Relevanz des Themas sowie die erkennbare Umsetzung in der Inszenierung bestätigten, kam von anderen Zwölftklässlern Widerspruch, unter anderem mit dem Hinweis darauf, dass in Zeiten zunehmender Gleichberechtigung die kritisierte Ungleichheit doch eigentlich nicht mehr aktuell sei. Bestehen blieb damit ein Dissens zwischen dem Fokus auf einem Staus quo, der den Femizid als gesellschaftliches Problem anerkennt, und einer in der Schülerwirklichkeit moderneren Perspektive, die von der Überwindung veralteter Strukturen ausgeht.
So fragte ein Schüler, was denn wäre, wenn eine männliche Figur – beispielswiese Woyzecks Freund Andres – von Woyzeck ermordet würde. Man habe sich entschieden, so Haugk, in der Inszenierung von der Büchner-Vorlage auszugehen, bei der Woyzeck seine Geliebte umbringt, doch diese Entscheidung eines Theaterhauses müsse nicht für die Schüler:innen gelten: „Schreibt ruhig das Stück neu“, appellierte Haugk an die Jugendlichen, „Stücke sind nicht heilig, sie müssen nicht konserviert werden, Ihr habt die Möglichkeit, etwas Eigenes aus ihnen zu machen! Das hält die Stücke lebendig!“